Krisen gehören zum Leben – ob persönliche Schicksalsschläge, berufliche Herausforderungen oder gesellschaftliche Umbrüche. Sie reißen uns aus gewohnten Bahnen und konfrontieren uns mit Unsicherheit und Schmerz. Doch Krisen sind nicht nur Bedrohungen, sie bergen auch Chancen: zur Neuorientierung, zum persönlichen Wachstum und zur Stärkung innerer Ressourcen. Der Schlüssel liegt darin, sich innerlich zu sortieren und die Krise aktiv zu gestalten.
Krisen als Katalysator für Entwicklung
Psychologisch betrachtet sind Krisen Zeiten erhöhter Vulnerabilität, aber auch erhöhter Entwicklungsdynamik. Der Begriff „Krise“ stammt vom griechischen krisis, was „Entscheidung“ oder „Wendepunkt“ bedeutet. In der Entwicklungspsychologie spricht man von „kritischen Lebensereignissen“, die Anpassungsleistungen erfordern.
Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun (1996) prägten den Begriff des posttraumatischen Wachstums (posttraumatic growth). Ihre Forschung zeigt: Viele Menschen berichten nach tiefgreifenden Krisen von positiven Veränderungen – zum Beispiel einem stärkeren Sinnempfinden, besseren Beziehungen oder einer neuen Wertschätzung des Lebens.
Warum Krisen Chancen bieten
Infragestellung des Alten
Krisen unterbrechen Routinen und machen sichtbar, was bisher unbewusst lief. Das eröffnet die Möglichkeit, eingefahrene Muster zu überdenken – sei es im Beruf, in Beziehungen oder im Selbstbild.
Förderung von Resilienz
Der konstruktive Umgang mit einer Krise stärkt die Widerstandskraft gegenüber künftigen Belastungen. Resilienzforschung betont: Es geht nicht darum, unverwundbar zu sein, sondern sich trotz widriger Umstände zu erholen und weiterzuentwickeln.
Neuausrichtung und Sinnfindung
In Krisen wird oft existenziell gefragt: Was ist mir wirklich wichtig? Welche Werte tragen mich? Viktor Frankl (1946) zeigte in seiner Logotherapie, dass gerade in Extremsituationen die Sinnsuche ein zentraler Faktor für psychische Stabilität ist.
Wie gelingt es, sich innerlich zu sortieren?
Krisenbewältigung ist ein Prozess. Folgende Strategien haben sich als hilfreich erwiesen:
Gefühle anerkennen und ausdrücken
Unterdrückte Emotionen verstärken Stress. Akzeptanz bedeutet, Angst, Trauer oder Wut Raum zu geben, ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen. Schreiben, Gespräche oder kreative Ausdrucksformen können dabei helfen.
Die Perspektive erweitern
Kognitive Ansätze wie das reframing fördern einen neuen Blick auf die Situation: Was könnte ich aus dieser Erfahrung lernen? Was eröffnet sich mir jetzt?
Sinnvolle Handlungen setzen
Handlungsfähigkeit stärkt das Gefühl von Kontrolle. Auch kleine Schritte – ein strukturierter Tagesplan, ein Gespräch mit einer vertrauten Person, ein Spaziergang – helfen, die eigene Wirksamkeit zu spüren.
Soziale Unterstützung nutzen
Bindungen sind ein zentraler Resilienzfaktor. Der Austausch mit anderen schützt vor Isolation und ermöglicht es, neue Sichtweisen zu gewinnen.
Achtsamkeit üben
Achtsamkeitsbasierte Verfahren fördern die Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu bleiben und sich nicht von Grübeleien mitreißen zu lassen. Sie stärken die emotionale Selbstregulation und das Selbstmitgefühl.
Fazit
Krisen zwingen uns, innezuhalten und uns neu auszurichten. Sie sind unbequem, oft schmerzhaft – und doch können sie ein Tor zu persönlicher Reifung sein. Der Weg dahin führt über die bewusste Auseinandersetzung mit dem Erlebten, die Aktivierung innerer und äußerer Ressourcen und den Mut, neue Wege zu gehen.
Quellen
- Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman.
- Beck, J. S. (2011). Kognitive Verhaltenstherapie: Grundlagen und Anwendung. Weinheim: Beltz.
- Cohen, S., & Wills, T. A. (1985). Stress, social support, and the buffering hypothesis. Psychological Bulletin, 98(2), 310–357.
- Filipp, S.-H. (1995). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Weinheim: Beltz.
- Frankl, V. E. (1946). …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: Kösel.
- Hayes, S. C., Strosahl, K. D., & Wilson, K. G. (2006). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. New York: Guilford Press.
- Kabat-Zinn, J. (2003). Gesund durch Meditation: Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR. München: Goldmann.
- Meichenbaum, D. (2006). Stress inoculation training: A preventative and treatment approach. In P. M. Lehrer et al. (Eds.), Principles and practice of stress management (3rd ed.). New York: Guilford.
- Rutter, M. (2012). Resilience as a dynamic concept. Development and Psychopathology, 24(2), 335–344.
- Tedeschi, R. G., & Calhoun, L. G. (1996). The posttraumatic growth inventory: Measuring the positive legacy of trauma. Journal of Traumatic Stress, 9(3), 455–471.